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Grundzüge antiziganistischer Erscheinungsformen

Erscheinungsformen beschreiben, in welch unterschiedlicher Ausprägung Antiziganismus auftritt. Die Erscheinungsformen beziehen sich auf verschiedene Kontexte (historische Ereignisse, gesellschaftliche Ordnungen, etc.) und unterscheiden sich hinsichtlich dessen, welche beabsichtigte sowie unbewusste/nicht-intendierte Funktionen die antiziganistischen Einstellungen, Äußerungen oder Handlungen erfüllen.

Antiziganismus ist tief in sozialen Normen und institutionellen Praktiken verwurzelt, passt sich aber auch sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten stets neu an. Er erscheint daher auch immer wieder in neuen Ausprägungen. Heute sind die Erscheinungsformen des Antiziganismus weitgehend von rassistischen Vorstellungen bestimmt. Psychosoziale Merkmale wie deviantes Verhalten wurden vor Jahrhunderten religiös, kulturell oder sozial bedingt konstruiert und als Projektionen festgeschrieben. Im 20. Jahrhundert erfolgte eine Rassifizierung, die im Völkermord an den Sinti und Roma gipfelte.  Nach der NS-Zeit wurden die rassistischen Vorstellungen trotz semantischer Verschiebung – auf Konstrukte wie „Ethnie“, „Abstammung“ oder „Kultur“ – weitergetragen.

Um aktuelle antiziganistische Vorfälle dokumentieren zu können, orientieren wir uns an vier Erscheinungsformen, welche sich im öffentlichen Leben, in den Medien und der Politik, im Kontext von Arbeit, Wohnen und Gesundheit sowie in staatlichen Institutionen (Bildungs­einrichtungen, Verwaltung, Polizei und Justiz etc.) folgendermaßen äußern. Die Erscheinungsformen bzw. die antiziganistischen Stereotype können Verschränkungen zu anderen Machtdynamiken – wie Sexismus, antimuslimischem Rassismus, Klassismus oder Antisemitismus – aufweisen.

Erscheinungsformen:

NS-bezogener Antiziganismus rekurriert auf antiziganistisch motivierte Verbrechen, Politiken u. Praxen während der NS-Zeit. Diese Form dient der relativierenden oder positiven Bewertung der rassistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und Praxis. Sie äußert sich z.B. in der Leugnung, verzerrte Darstellung, Verharmlosung oder Glorifizierung des Völkermords an den Sinti und Roma oder der Verfolgung von vermeintlichen oder tatsächlichen Angehörigen der Minderheit.

Bürgerlicher Antiziganismus bezieht sich auf die vorherrschenden Werte und Normen der heutigen Dominanzkultur/ Mehrheits­gesellschaft, also auf die normative Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und deren Legitimierung. Diese Erscheinungsform zeigt auf, wie sich das rechtschaffene bürgerliche Subjekt nicht verhalten darf und stigmatisiert vermeintlich abweichendes Verhalten. Bürgerlicher Antiziganismus kann in folgende Unterkategorien ausdifferenziert werden:

  • Sozialer Antiziganismus bezieht sich auf Abweichungen vom normativ erwarteten sozialen Handeln und äußert sich z.B. in der Stereotypisierung als zur Kriminalität oder Faulheit neigenden Menschen. Frauen wird zudem Promiskuität und schlechte Mutterschaft vorgeworfen.
  • Kultureller Antiziganismus bezieht sich auf das antiziganistisches Stereotyp vom niedrigen Zivilisationsgrad sowie auf stereotype Vorstellungen von Identitäts- und Heimatlosigkeit.
  • Romantisierender Antiziganismus äußert sich in der idealisierenden und verklärenden Umdeutung einer als anders wahrgenommenen Lebensweise, welche als Spiegel/Projektionsfläche für mehrheitsgesellschaftliche Sehnsüchte dient.
  • Religiöser Antiziganismus umfasst vor Jahrhunderten im religiösen Kontext entstandene Vorurteile wie z.B. der Vorwurf, heidnisch-magische oder satanische Kulte auszuüben (Wahrsagen, Heils- und Schadenspraktiken etc.).

Antiziganistisches Othering basiert auf der Konstruktion einer Fremdgruppe im Kontrast zur „Wir-Gruppe“ und liefert damit eine Projektionsfläche für stigmatisierende Zuschreibungen. Othering dient der eigenen Aufwertung durch Abgrenzung/Distinktion von einem imaginierten Objekt, das in der Gesellschaft unerwünschte und normabweichende Eigenschaften oder Verhaltensweisen verkörpert (die nicht konkret benannt sind). Diese Form ist also Grundlage für weitere Zuschreibungen. Hier wird Othering als Kategorie bei Vorfällen verwendet werden, die keine weiteren Rückschlüsse auf konkrete Zuschreibungen zulassen wie z.B. bei antiziganistischen Gesänge bzw. Rufe im Fußballstadion.

Migrationsbezogener Antiziganismus knüpft an das antiziganistische Stereotyp des „fremden, parasitären Eindringlings“ an. Diese Form zielt auf die Verhinderung und De-Legitimierung von unerwünschter (EU-)Migration ab, die als „Armutszuwanderung“ diffamiert wird. Es zeigen sich Parallelen zu sozialem Antiziganismus und Verschränkung mit Klassismus und antimuslimischem Rassismus (z.B., wenn von Clanstrukturen/-kriminalität gesprochen wird).