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Arbeitsweisen von MIA

Im Folgenden werden unsere Arbeitsdefinition, die Erscheinungsformen von Antiziganismus, die wir erfassen sowie die Vorfallkategorien, die wir bei der Dokumentation antiziganistischer Vorfälle verwenden, erläutert.

Die Arbeitsweisen von MIA können auch hier heruntergeladen werden.

Eine englische Version ist auch verfügbar: How MIA works

Mit der Gründung der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) wurde eine an den deutschen Kontext angepasste Arbeitsdefinition Antiziganismus entwickelt – in Anlehnung an die von den Mitgliedern der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) am 8. Oktober 2020 angenommene, nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition zu Antiziganismus, auf die sich auch die Bundesregierung bezieht, sowie mit Bezug auf das 2016 veröffentlichte „Grundlagenpapier Antiziganismus“ der Allianz gegen Antiziganismus und den Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus „Perspektivwechsel. Nachholende Gerechtigkeit. Partizipation.“ (2021).

Die folgende Arbeitsdefinition zu Antiziganismus ist daher seit Projektbeginn die Grundlage der Arbeit von MIA:

Antiziganismus beschreibt die gesellschaftlich tradierte Wahrnehmung von und den Umgang mit Menschen oder sozialen Gruppen, die als „Zigeuner“ konstruiert, stigmatisiert und verfolgt wurden und werden. Er richtet sich gegen Sinti und Roma, Jenische oder auch Reisende etc., für die Antiziganismus oftmals eine prägende Erfahrung ist. Sinti und Roma sind als größte Minderheit Europas auch die zahlenmäßig am stärksten von Antiziganismus betroffene Gruppe.

Antiziganismus ist in der Gesellschaft historisch verankert, hat sich über Jahrhunderte entwickelt, dabei verschiedene Formen angenommen und ist heute vorwiegend rassistisch begründet. Antiziganistische Stereotype stützen sich auf ein soziales Konstrukt und lassen bestimmte Eigenschaften als wesenhafte und natürliche Gruppenmerkmale erscheinen. Ein besonderes Kennzeichen antiziganistischer Erzählungen ist es, bestimmte Charakteristika pauschal und unabänderlich zuzuschreiben. Die Ursachen für die Entstehung solcher verallgemeinernden Zuschreibungen liegen in der Dominanzkultur/Mehrheitsgesellschaft begründet.

Antiziganismus zeigt sich in individuellen Äußerungen und Handlungen sowie institutionellen Politiken und Praktiken. In Diskursen werden antiziganistische Vorurteile tradiert, verfügbar gemacht und verfestigt. Ausdruck findet Antiziganismus dann in diskriminierenden Einstellungen, Handlungen und Strukturen, in gewalttätigen Praxen oder Hassverbrechen (antiziganistisch motivierte Straftaten) sowie in stigmatisierendem Verhalten. Antiziganismus tritt aber auch implizit oder versteckt auf: daher ist nicht nur wichtig, was gesagt und getan wird, sondern auch was nicht gesagt oder getan bzw. unterlassen wird. So haben offene oder verdeckte, symbolische oder materielle Ausgrenzungspraktiken sowie institutionalisierte und im Alltag erfahrbare Ungleichheit zur Folge, dass soziale Sicherheit verhindert und ein gleichberechtigter Zugang zu Rechten, Chancen und Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben verwehrt wird.

Antiziganismus dient dazu, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren, festzuschreiben und zu reproduzieren. Der Mehrheitsgesellschaft bzw. Dominanzkultur nützt Antiziganismus dahingehend, dass sich Hierarchien und der Ausschluss bestimmter Gruppen vom Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen rechtfertigen lassen, um eigene Privilegien zu verteidigen. Zudem schafft Antiziganismus ein Ventil für individuelle und kollektive Aggressionen (Sündenbock-Mechanismus). Um Antiziganismus zu bekämpfen, müssen antiziganistische Stereotype aktiv hinterfragt und dekonstruiert werden.

Erscheinungsformen beschreiben, in welch unterschiedlicher Ausprägung Antiziganismus auftritt. Die Erscheinungsformen beziehen sich auf verschiedene Kontexte (historische Ereignisse, gesellschaftliche Ordnungen, etc.) und unterscheiden sich hinsichtlich dessen, welche beabsichtigte sowie unbewusste/nicht-intendierte Funktionen die antiziganistischen Einstellungen, Äußerungen oder Handlungen erfüllen.

Antiziganismus ist tief in sozialen Normen und institutionellen Praktiken verwurzelt, passt sich aber auch sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten stets neu an. Er erscheint daher auch immer wieder in neuen Ausprägungen. Heute sind die Erscheinungsformen des Antiziganismus weitgehend von rassistischen Vorstellungen bestimmt. Psychosoziale Merkmale wie deviantes Verhalten wurden vor Jahrhunderten religiös, kulturell oder sozial bedingt konstruiert und als Projektionen festgeschrieben. Im 20. Jahrhundert erfolgte eine Rassifizierung, die im Völkermord an den Sinti und Roma gipfelte.  Nach der NS-Zeit wurden die rassistischen Vorstellungen trotz semantischer Verschiebung – auf Konstrukte wie „Ethnie“, „Abstammung“ oder „Kultur“ – weitergetragen.

Um aktuelle antiziganistische Vorfälle dokumentieren zu können, orientieren wir uns an vier Erscheinungsformen, welche sich im öffentlichen Leben, in den Medien und der Politik, im Kontext von Arbeit, Wohnen und Gesundheit sowie in staatlichen Institutionen (Bildungs­einrichtungen, Verwaltung, Polizei und Justiz etc.) folgendermaßen äußern. Die Erscheinungsformen bzw. die antiziganistischen Stereotype können Verschränkungen zu anderen Machtdynamiken – wie Sexismus, antimuslimischem Rassismus, Klassismus oder Antisemitismus – aufweisen.

Erscheinungsformen:

NS-bezogener Antiziganismus rekurriert auf antiziganistisch motivierte Verbrechen, Politiken u. Praxen während der NS-Zeit. Diese Form dient der relativierenden oder positiven Bewertung der rassistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und Praxis. Sie äußert sich z.B. in der Leugnung, verzerrte Darstellung, Verharmlosung oder Glorifizierung des Völkermords an den Sinti und Roma oder der Verfolgung von vermeintlichen oder tatsächlichen Angehörigen der Minderheit.

Bürgerlicher Antiziganismus bezieht sich auf die vorherrschenden Werte und Normen der heutigen Dominanzkultur/ Mehrheits­gesellschaft, also auf die normative Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und deren Legitimierung. Diese Erscheinungsform zeigt auf, wie sich das rechtschaffene bürgerliche Subjekt nicht verhalten darf und stigmatisiert vermeintlich abweichendes Verhalten. Bürgerlicher Antiziganismus kann in folgende Unterkategorien ausdifferenziert werden:

  • Sozialer Antiziganismus bezieht sich auf Abweichungen vom normativ erwarteten sozialen Handeln und äußert sich z.B. in der Stereotypisierung als zur Kriminalität oder Faulheit neigenden Menschen. Frauen wird zudem Promiskuität und schlechte Mutterschaft vorgeworfen.
  • Kultureller Antiziganismus bezieht sich auf das antiziganistisches Stereotyp vom niedrigen Zivilisationsgrad sowie auf stereotype Vorstellungen von Identitäts- und Heimatlosigkeit.
  • Romantisierender Antiziganismus äußert sich in der idealisierenden und verklärenden Umdeutung einer als anders wahrgenommenen Lebensweise, welche als Spiegel/Projektionsfläche für mehrheitsgesellschaftliche Sehnsüchte dient.
  • Religiöser Antiziganismus umfasst vor Jahrhunderten im religiösen Kontext entstandene Vorurteile wie z.B. der Vorwurf, heidnisch-magische oder satanische Kulte auszuüben (Wahrsagen, Heils- und Schadenspraktiken etc.).

Antiziganistisches Othering basiert auf der Konstruktion einer Fremdgruppe im Kontrast zur „Wir-Gruppe“ und liefert damit eine Projektionsfläche für stigmatisierende Zuschreibungen. Othering dient der eigenen Aufwertung durch Abgrenzung/Distinktion von einem imaginierten Objekt, das in der Gesellschaft unerwünschte und normabweichende Eigenschaften oder Verhaltensweisen verkörpert (die nicht konkret benannt sind). Diese Form ist also Grundlage für weitere Zuschreibungen. Hier wird Othering als Kategorie bei Vorfällen verwendet werden, die keine weiteren Rückschlüsse auf konkrete Zuschreibungen zulassen wie z.B. bei antiziganistischen Gesänge bzw. Rufe im Fußballstadion.

Migrationsbezogener Antiziganismus knüpft an das antiziganistische Stereotyp des „fremden, parasitären Eindringlings“ an. Diese Form zielt auf die Verhinderung und De-Legitimierung von unerwünschter (EU-)Migration ab, die als „Armutszuwanderung“ diffamiert wird. Es zeigen sich Parallelen zu sozialem Antiziganismus und Verschränkung mit Klassismus und antimuslimischem Rassismus (z.B., wenn von Clanstrukturen/-kriminalität gesprochen wird).

Die rassistische Verfolgungspolitik und -praxis mit ihrer Vernichtungsabsicht während der NS-Zeit hat wie kein anderes Ereignis fortwährende, negative Auswirkungen auf die Verfolgten und ihnen nachkommenden Generationen. Damit diese rassistischen Verbrechen und ihr Fortwirken eine angemessene Beachtung finden, verwendet MIA – zur Einordnung NS-bezogener antiziganistischer Vorfälle – eine separate Definition zur Leugnung und Verharmlosung des Völkermords an den Sinti und Roma. Diese ist angelehnt an die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) im Oktober 2013 verabschiedete Arbeitsdefinition zur Leugnung und Verharmlosung des Holocausts:

Als Leugnung und Verharmlosung des Völkermords an den Sinti und Roma werden solche Diskurse und Formen der Propaganda verstanden, die die historische Realität und das Ausmaß der Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma sowie weiterer antiziganistisch verfolgter Personen durch die Nazis und deren Kompliz_innen während des Zweiten Weltkriegs negieren, entschuldigen, minimieren oder die Verantwortung dafür verwischen. Die Leugnung bezieht sich auf jeden Versuch zu behaupten, der Holocaust an den Sinti und Roma habe nicht stattgefunden.

Die Leugnung oder Verharmlosung dieser NS-Verbrechen ist auch dann gegeben, wenn die Instrumente der Verfolgung und Vernichtung (wie Gaskammern, Erschießungen, Verhungern, Zwangsarbeit, Festsetzung, rassistische Begutachtungen, Zwangssterilisierungen und medizinische Menschenversuche etc.) oder die Vorsätzlichkeit dieser Verbrechen abgestritten, in Zweifel gezogen oder bagatellisiert werden.

Die Leugnung und Verharmlosung des Völkermords an den Sinti und Roma ist in allen ihren verschiedenen Formen stets Ausdruck von Antiziganismus. Formen der Leugnung des Völkermords bestehen auch darin zu behaupten, Sinti und Roma übertrieben oder erfänden den Völkermord, um daraus einen politischen oder einen finanziellen Vorteil zu ziehen. Formen der Verharmlosung bestehen auch in der Behauptung, Sinti und Roma seien für ihren eigenen Völkermord und anderer Verbrechen an ihnen selbst verantwortlich. Diese Formen zielen letztlich darauf ab, Sinti und Roma für schuldig und den Antiziganismus für legitim zu erklären.

Unter Verharmlosung des Völkermords an den Sinti und Roma sind auch Aussagen zu verstehen, die den Völkermord an den Sinti und Roma als positives historisches Ereignis darstellen. Diese Äußerungen sind keine Völkermordleugnung, sondern als radikale Form des Antiziganismus eng damit verbunden. Sie implizieren, dass der Völkermord bei der Erreichung seines Ziels der Vernichtung (Auschwitz-Erlass) nicht weit genug gegangen sei.

MIA dokumentiert solche Vorfälle, die sich auf der Grundlage von antiziganistischen Vorurteilen ereignen.

Um Antiziganismus besser greifen zu können, gibt es in Anlehnung an die Richtlinien zum Monitoring von Hassverbrechen der Initiative „Facing Facts!“ eine Reihe von Indikatoren, die signalisieren, dass es sich bei einem Vorfall um einen antiziganistischen Vorfall handeln könnte. Folgende Indikatoren lassen auf einen möglichen antiziganistischen Hintergrund rückschließen: Wahrnehmung des Opfers; Wahrnehmung der Zeug*innen; Hintergrund der Täter*innen; Ort des Vorfalls; Zeitpunkt des Vorfalls; benutzte Sprache, Wörter oder Symboliken; Geschichte vorangegangener Vorfälle; Grad der Gewalttätigkeit.

Bei der Unterscheidung der Vorfallarten orientiert sich MIA an Kategorisierungen anderer Monitoring-Strukturen. Die Kategorien erfassen den grundsätzlichen Charakter des Vorfalls und dienen der zentralen Einordnung der Vorfälle. Die Differenzierung der Vorfallkategorien bezieht sich nicht auf gegebenenfalls mit den Vorfällen einhergehenden Straftatbeständen.

Hinweis zur Kategorisierung: Vorfälle erfüllen häufiger mehrere Vorfallarten. Zwischen den Codes auf einer Ebene gibt es folgende Hierarchie: Codes, die zuerst aufgeführt werden, sind nachgeordneten Codes vorzuziehen. Wird bei einem antiziganistischen Vorfall beispielsweise jemand beleidigt und geschlagen, dann ist der Vorfall mit der Kategorie „Angriff“ zu verschlagworten und nicht bei „verbale Stereotypisierung – verbaler Angriff“.

Kategorien:

Unter extremer Gewalt fassen wir physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben können oder einen gravierenden physischen Schaden verursachen können. Darunter fallen Brandanschläge auf bewohnte Gebäude, Bomben, Schüsse, Entführungen oder Messerangriffe.

Als Angriff werden körperliche Angriffe dokumentiert, welche keinen Angriff auf das Leben darstellen und keine schwerwiegenden körperlichen Schädigungen nach sich zieht. Darunter fällt auch der bloße Versuch eines physischen Angriffs, z.B., wenn sich der Angegriffene verteidigen kann bzw. rechtzeitig flüchtet oder der Angriff sein Ziel verfehlt.

Als Diskriminierung dokumentieren wir antiziganistisch motivierte Benachteiligungen. Darunter fällt zum einen die institutionelle Diskriminierung als Ergebnis von institutionellem Handeln im Rahmen der Erfüllung öffentlicher Aufgaben, das sich an ungeschriebenen Regeln und Routinen orientiert (z.b. racial profiling durch die Polizei oder Ausschlusspraktiken im Bildungssektor). Zum anderen dokumentieren wir darunter Formen individueller Diskriminierung als Ergebnis von individuellem Handeln, auch wenn es innerhalb von Organisationen/Unternehmen stattfindet (z.B. Dienstleistungen wie Bedienung im Restaurant werden verwehrt).

Als Sachbeschädigung dokumentieren wir Angriffe auf oder Beschädigungen sowie Beschmutzungen von Orten der Erinnerung an den Völkermord an den Sinti und Roma sowie von persönlichem Eigentum, wenn dieses aufgrund seiner wahrgenommenen Verbindung zu Personen, die von Antiziganismus betroffenen sind, ausgewählt wurde. Darunter fallen Brandanschläge auf Eigentum, bei denen keine Lebensgefahr besteht, oder das Sprühen, Malen oder Schmieren antiziganistischer Slogans oder Symbole an Gedenkorten oder Eigentum von Betroffenen.

Als Bedrohung werden eindeutige und direkt an eine Person oder Institution gerichtete verbale Angriffe in Form der Androhung von Gewalt gegen Personen, Gruppen oder Sachen oder die indirekte bzw. nonverbale Androhung von Gewalt gegenüber konkret Betroffenen.

Die Kategorie verbale Stereotypisierung umfasst antiziganistische Äußerungen, die nicht explizit (direkt adressiert) bedrohend sind und die nicht direkt mit benachteiligenden Handlungen einhergehen. Dies umfasst verbale Angriffe in Form von antiziganistischen Beleidigungen oder wenn Personen gezielt antiziganistisch adressiert werden. Darüber hinaus werden antiziganistische Propaganda (z.B. Reden oder Plakate auf Versammlungen sowie Schmierereien oder Aufkleber im öffentlichen Raum oder an privatem Eigentum von Nicht-Roma), Massenzuschriften (antiziganistische Texte/Mails mit mehreren Adressaten) und sonstige verbale Stereotypisierungen wie romantisierende Zuschreibungen erfasst.